Was wurde sie beschimpft und
belehrt von der deutschen besserwisserischen Literaturkritik aus meist
männlicher Feder. Sie könne nicht schreiben, warf ihr Edo Reents von der FAZ
vor. Ihr fehle „das Verständnis für die epische Dimension der Wirklichkeit“,
behauptete Georg Diez im Spiegel. Judith Hermanns Roman „Aller Liebe Anfang“
hat einige Rezensenten zu Aussagen hinreißen lassen, die an Arroganz und
Unverständnis nur schwer zu überbieten sind.
Worum geht es in Hermanns Roman?
Eine Frau namens Stella lebt mit ihrer Tochter Ava und ihrem Mann Jason in einer
ruhigen Vorortsiedlung. Ein Haus mit Garten, junges Familienglück. Stella
arbeitet als Altenpflegerin, ihre Patienten leben noch in ihren eigenen
Wohnungen. Jason ist Handwerker, baut Häuser und ist die meiste Zeit nicht
zuhause. Diese scheinbar stabile Situation wird gestört, als ein Mann, der sich
Mister Pfister nennt, Stella um ein Gespräch bittet und damit anfängt, ihr
nachzustellen. Er wünscht sich verzweifelt Kontakt zu Stella, den sie ihm jedoch
konsequent und zunehmend verunsichert verweigert. Diese Verunsicherung hat
ihren Ursprung nicht allein in der durch den Stalker verursachten Verletzung
ihrer Privatsphäre, sondern auch in dem Gefühl von einem anderen Menschen
begehrt zu werden. Ein Gefühl, das Stella scheinbar bei ihrem Mann vermisst. So
bricht durch Mister Pfister für Stella die Frage auf, ob sie mit ihrem Leben
denn wirklich zufrieden ist. Eine beunruhigende Frage.
Der Clou des Buches ist, dass so
wie Mister Pfister in Stellas Leben ungebeten eingedrungen ist, auch Stella
damals in Jasons Leben eingedrungen ist, als sie ihm ihre Flugangst und ihr
unausgesprochenes Betteln um Beistand aufgedrängt hat. Man könnte sagen, dass
sich Stella genauso in Jasons „hineingestalkt“ hat, wie es Mister Pfister bei
Stella versucht. Ist Stalking-artiges Verhalten also vielleicht wirklich „aller
Liebe anfang“? Hermanns Roman scheint zumindest davon auszugehen.
Hermanns Sprache hat den
gesamten Roman über etwas Unterschwelliges. Das mag zuweilen anstrengend
wirken, ästhetisch sinnvoll ist es jedoch allemal. Das verunsicherte Erleben
zerfällt in seine Einzelheiten. So ist es nicht verwunderlich, dass Judith
Hermann dem Leser detailgenau (und dabei glänzend beobachtete) Schilderungen
der Wirklichkeit, in der Stella sich bewegt, bietet.
Und deshalb muss man festhalten:
Ja, Judith Hermann kann schreiben, sehr gut sogar. Und ja, sie hat die „epische
Dimension der Wirklichkeit“ bestens verstanden.
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