Sonntag, 13. Dezember 2015

Judith Hermann, Aller Liebe Anfang

Was wurde sie beschimpft und belehrt von der deutschen besserwisserischen Literaturkritik aus meist männlicher Feder. Sie könne nicht schreiben, warf ihr Edo Reents von der FAZ vor. Ihr fehle „das Verständnis für die epische Dimension der Wirklichkeit“, behauptete Georg Diez im Spiegel. Judith Hermanns Roman „Aller Liebe Anfang“ hat einige Rezensenten zu Aussagen hinreißen lassen, die an Arroganz und Unverständnis nur schwer zu überbieten sind.
Worum geht es in Hermanns Roman? Eine Frau namens Stella lebt mit ihrer Tochter Ava und ihrem Mann Jason in einer ruhigen Vorortsiedlung. Ein Haus mit Garten, junges Familienglück. Stella arbeitet als Altenpflegerin, ihre Patienten leben noch in ihren eigenen Wohnungen. Jason ist Handwerker, baut Häuser und ist die meiste Zeit nicht zuhause. Diese scheinbar stabile Situation wird gestört, als ein Mann, der sich Mister Pfister nennt, Stella um ein Gespräch bittet und damit anfängt, ihr nachzustellen. Er wünscht sich verzweifelt Kontakt zu Stella, den sie ihm jedoch konsequent und zunehmend verunsichert verweigert. Diese Verunsicherung hat ihren Ursprung nicht allein in der durch den Stalker verursachten Verletzung ihrer Privatsphäre, sondern auch in dem Gefühl von einem anderen Menschen begehrt zu werden. Ein Gefühl, das Stella scheinbar bei ihrem Mann vermisst. So bricht durch Mister Pfister für Stella die Frage auf, ob sie mit ihrem Leben denn wirklich zufrieden ist. Eine beunruhigende Frage.
Der Clou des Buches ist, dass so wie Mister Pfister in Stellas Leben ungebeten eingedrungen ist, auch Stella damals in Jasons Leben eingedrungen ist, als sie ihm ihre Flugangst und ihr unausgesprochenes Betteln um Beistand aufgedrängt hat. Man könnte sagen, dass sich Stella genauso in Jasons „hineingestalkt“ hat, wie es Mister Pfister bei Stella versucht. Ist Stalking-artiges Verhalten also vielleicht wirklich „aller Liebe anfang“? Hermanns Roman scheint zumindest davon auszugehen.
Hermanns Sprache hat den gesamten Roman über etwas Unterschwelliges. Das mag zuweilen anstrengend wirken, ästhetisch sinnvoll ist es jedoch allemal. Das verunsicherte Erleben zerfällt in seine Einzelheiten. So ist es nicht verwunderlich, dass Judith Hermann dem Leser detailgenau (und dabei glänzend beobachtete) Schilderungen der Wirklichkeit, in der Stella sich bewegt, bietet.
Und deshalb muss man festhalten: Ja, Judith Hermann kann schreiben, sehr gut sogar. Und ja, sie hat die „epische Dimension der Wirklichkeit“ bestens verstanden.

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